RETOUR - BLICK

Familiengeschichten sind Geschichte

Familienlegende von den erschossenen Großvätern

Der tragische Schicksalsschlag, der die Familien Reit und Gerbig im Ersten Weltkrieg getroffen hatte, hinterließ seine Spur in den erzählten Familiengeschichten. Tatsachen, Fantasie, Ressentiments und Erinnerungsverschiebungen führten zu der folgenden Familienlegende, die meine Mutter, Erika W., etwa 50 Jahre nach dem Ereignis ihren Kindern erzählte:

Es war zur Zeit des ersten Weltkriegs in Polen. Die Region um Konstantynow war besonders stark umkämpft. Die Front verlagerte sich immer wieder in die eine, dann in die andere Richtung. Stadt und Land waren verwüstet, es hatte viele Tote auf beiden Seiten, und auch bei der Bevölkerung, gegeben.

Johann Reit und Wilhelm Gerbig waren mit den Familien von ihren Bauernhöfen in Jozefow und Konstantynow geflüchtet. Nach einigen Tagen machten sie sich Sorgen um das zurückgelassene Vieh. Sie kehrten zu ihren Höfen zurück, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen. Als sich herausstellte, dass sie deutscher Abstammung waren, hält man sie für Spione und zunächst wurde Wilhelm Gerbig erschossen. Als Johann Reit dies sah, rief er noch "Wilhelm" und wurde daraufhin mit einem Bajonett erstochen, weil die russischen Soldaten dachten, er wollte dem deutschen Kaiser Wilhelm huldigen.

Eine weitere Legende, die meine Mutter erzählte, besagte, dass Johann Reit als Besitzer des ansehnlichen Bauernhofes "Die Elle" auf den Neid des angrenzenden polnischen Großgrundbesitzers gestoßen sei. Es wurde vermutet, dieser habe Johann Reit an die Russen verraten, indem er behauptete, auf der Elle würden heimlich Hemden für das deutsche Militär genäht. Johann Reit wäre deswegen vom russischen Militär erschossen worden.

Soweit die Erzählungen.

 


 

Zu den Kriegshandlungen in der Region von Lodz steht in Wikipedia:

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Deutschen_im_Raum_%C5%81%C3%B3d%C5%BA)

Der Erste Weltkrieg brachte für die Łódźer Deutschen einschneidende Veränderungen. Schon nach wenigen Monaten war die Region Kriegsschauplatz: Vom 11. November bis 5. Dezember 1914 forderte die Schlacht um Łódź zahlreiche Todesopfer auch unter Deutschen der Region.[139][140][141] Daneben gab es in vielen Orten erhebliche Kriegsschäden, insbesondere in Aleksandrów,[139] Konstantynów,[142][138] Neusulzfeld (Nowosolna),[140] Andrzejów,[118] Königsbach (Bukowiec),[143] Boginia, Skoszewy, Janinów, Głogowiec, Teolin, Gałkówek, Grünberg (Zielona Góra), Grömbach (Łaznowska Wola), Wilhelmswalde (Borowa), Albertów, Przylęk Mały und Brzeziny.[141]

138: Eduard Kneifel: Die evangelisch-augsburgischen Gemeinden in Polen 1555–1939. Vierkirchen 1971, S. 141.
142: Eduard Kneifel: Geschichte der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen. Niedermarschacht 1964, S. 190.

Im Buch von Adolf Eichler ist zu lesen:

(Quelle: Adolf Eichler, Zwischen den Fronten - Kriegsaufzeichnungen eines Lodzer Deutschen, Lodz 1918, Verlag Dt. Post, digital verfügbar unter https://digital.martin-opitz-bibliothek.de/resolver/0139155)

[...]
Der lange Holzzaun um den großen schönen Park ist abgerissen die Säulen sind übrig geblieben. Die Spuren der Verwüstung begleiten mich bis zum nahen Fichtenwäldchen, in dem Artillerie-Deckungen und Unterstände sind. Längs der Allee nach Konstantynow und quer durch die im Tal liegenden Felder ziehen sich lange Reihen Schützengräben. An der Straßenabzweigung nach Josefow ist ein kleines Gehölz, das ebenfalls als Artilleriedeckung diente. Drei neue Brücken sind hier über das Flüsschen Ner geschlagen; keine ist von einem feindlichen Geschoss getroffen worden. Die Schützengräben finden Fortsetzungen bis zur Stadt. In die Mauer des jüdischen Friedhofs hat eine Granate ein Loch gerissen. Die mauer weist Schießscharten auf. Hier lagen die Russen in Verteidigungsstellung. Durch den Friedhof sind, ohne Schonung der Gräber und Denksteine, Schützengräben gezogen. Auf dem neuen Teil des Friedhofs finde ich einige ältere Juden beim Grabschaufeln. Sie geben karge Antworten. Vor dem Tor steht ein Bretterwagen; eben beginnen die Klageweiber ihr nervenerschütterndes Wehgeschrei. Ein weinender alter Jude gibt mir Auskunft. Der Tote auf dem Wagen sei an einem der Schreckenstage von Konstantynow vor die Tür seines Hauses getreten. Er sei von russischen Soldaten unter der Beschuldigung, Spion zu sein, festgenommen und, da er sich nicht loskaufen konnte, erschossen worden. Und noch mehr Opfer der russischen Grausamkeit aus der jüdischen und deutschen Bürgerschaft der Stadt werden mir namhaft gemacht. Auch vor dem nahen katholischen Kirchhof sind flache Gräben, wohl Reservestellungen für Schützen. Auf dem benachbarten evangelischen Friedhof liegen drei Leichen. Hier höre ich eine erschütternde Erzählung. Zwei Kolonisten aus dem nahen Josefow waren während der heftigen Kanonade geflüchtet. Nach einigen Tagen machten sie den Versuch, in ihre Häuser zurückzukehren, um nach dem zurückgebliebenen Vieh zu sehen. Sie wurden vom russischen Militär angehalten. Allein ihre deutsche Abkunft lieferte den Spionagebeweis. Sie wurden erschossen. Die Leichen des alten Reit und seines Schwiegersohns haben in einem Sumpf gelegen [*]. Nun sollen sie der Friedhofsruhe übergeben werden. Die Gesichter der beiden Opfer russischer Willkür sind noch gut erhalten. Es ist etwas furchtbares um den Gedanken, dass die einheimischen Deutschen bei ihrer so oft bekundeten Treue und Loyalität und der Opferhingabe, die sie in diesem Kriege doppelt üben mussten, nur deshalb grausamer Vernichtung preisgegeben waren, weil sie deutscher Abkunft sind.

Nun nähere ich mich der Stadt, durch die der Schrecken des Krieges seinen Weg genommen hat. Rechts sind ganze

[…]

[*] siehe dazu den Kommentar von Jan Guszak, s.u.

(in seinem anderen Buch schreibt Eichler ähnliches: Adolf Eichler, Deutschtum im Schatten des Ostens, Meinhold Verlagsgesellschaft, Dresden, 1942, Seite 188 f)

Der Konstantynower Heimatforscher Jan Gluszak schrieb mir zu diesen Ereignissen:

(Auszug aus einer EMail von Jan Gluszak vom 16.10.2004)

Der hier erwähnte 'alte Reit' war niemand anderer als Johann Reit, sein "Schwiegersohn", oder besser engster Verwandter ( denn dieses Schwiegersohn - Schwiegervater - Verhältnis bestand eher zwischen den beiden offenbar Erzählenden - nämlich : Adolf Reit und Konrad Gerbig - als den Ermordeten ) hieß dagegen Wilhelm Gerbig . Beide wurden am 22. 11.1914 um 2 Uhr nachmittags auf der Straße von den Russen bemerkt, angehalten und kurzerhand von den über ihre Misserfolge und Verluste verärgerten Soldaten als Sündenböcke erschossen . Dass das hier auch mit üblichen russischen wilden Beschimpfungen vor sich ging ‚ ist ja leider klar. Die Leichen beider Männer wurden in den Sumpf, wahrscheinlich am Ner bei Josefow unweit der Brücke, hingeworfen bis sie nach etwa zwei Wochen - das Wetter war frostig damals, deshalb war der Verwesungsprozess bis zum 10. Dezember noch nicht weit fortgeschritten - aufgefunden, dem Pastor gezeigt und dann auf dem evangelischen Friedhof auf der Laska-Str. liebevoll beigesetzt wurden.

Die Szene, die Adolf Eichler kurz beschreibt, geschah etwa um die Mittagsstunde des 10.12.1914 . Um 9 Uhr morgens hatten Adolf Reit und sein Schwiegervater Konrad Gerbig - der eine hatte seinen Vater, der andere seinen Sohn verloren - bei dem Pastor Schmidt folgendes zu Protokoll gegeben:

Kirchenbücher der evangelisch-augsburgischen Gemeinde zu Konstantynow 1914

120 . Geschehen in Konstantynow am (27.11. / ) 10.12. 1914 um 9 Uhr morgens . Es erschien Adolf Reit 35 Jahre alt und Konrad Gerbig 64 Jahre alt, die hiesigen Weber, und erklärten uns, dass am (9./) 22. November um 2 Uhr nachmittags der in Josefow wohnhafte in der Gemeinde Lutomiersk gemeldete ‚ in Bechcice geborene 63 Jahre alte Landwirt Johann Reit (Jan Reit), der Sohn von Johann und Anna Marie, geborene Dechert, des verstorbenen Ehepaares Reit, hier gestorben war . Er hinterließ die verwitwete Ehefrau Wilhelmine, geboren Schuettenhelm . Nachdem wir uns augenscheinlich vom Tode des Johann Reit überzeugt hatten, wurde dieser Akt vorgelesen und von uns und dem zweiten Zeugen unterzeichnet. Der erste Zeuge ist des Schreibens unkundig.

K. Gerbig   Pastor L. Schmidt

Und

121. Geschehen in Konstantynow am (27.11./) 10.12. 1914 um 9 Uhr morgens . Es erschienen Konrad Gerbig 64 Jahre alt und Adolf Reit 35 Jahre alt, die hiesigen Weber, und erklärten uns, dass am (9./) 22. November um 2 Uhr nachmittags der in Konstanynowek wohnhafte, in der Gemeinde Lutomiersk gemeldete, in Bechcice geborene 42 Jahre alte Weber Wilhelm Gerbich, der Sohn von Konrad und Elisabetha, geb. Slenvogt, des Ehepaares Gerbich, hier gestorben war . Er hinterließ die verwitwete Ehefrau Magdalene ‚ geboren Kirchner . Nachdem wir uns augenscheinlich vom Tode des Wilhelm Gerbich überzeugt hatten, wurde diese Urkunde vorgelesen und von uns und dem ersten Zeugen unterzeichnet . Der zweite Zeuge ist des Schreibens unkundig .

K. Gerbig   Pastor L. Schmidt

 

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