Familiengeschichten sind Geschichte
Auswanderung - mein Blick zurück"Den Homo Migrans gibt es, seit es den Homo sapiens gibt; denn Wanderungen gehören zur Conditio humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod. Migrationen als Sozialprozesse sind, von Flucht und Zwangswanderungen abgesehen, Antworten auf mehr oder minder komplexe ökonomische und ökologische, soziale und kulturelle Existenz- und Rahmenbedingungen. Die Geschichte der Wanderungen ist deshalb immer auch Teil der Geschichte und nur vor ihrem Hintergrund zu verstehen." so schreibt Klaus Jürgen Bade, deutscher Historiker und Professor für Neueste Geschichte, in einem Beitrag im Jahre 2000. ( i ) "Jede Art von Migration beruht auf dem Wunsch nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen. Je nach persönlicher Priorität erscheinen bestimmte Regionen 'attraktiver' als andere, da soziale, politische und ökonomische Rahmenbedingungen räumlich nicht gleich verteilt sind. Genau diese räumlichen Unterschiede sind es, die Menschen zu Wanderungen bewegen." schreibt Alexandra Fies in ihrer Dissertation aus dem Jahre 2010 ( ii ) Meine Vorfahrenfamilien kamen nach Polen zum Einen im Jahr 1818 - die Familie Schittenhelm aus Württemberg - und zum Anderen in der Mitte der 1830er Jahre - die Familien Reit, Gerbig und Kircher aus Hessen. Ein weiterer Zweig kam aus der Region des heutigen Thüringen - die Familie Schlönvogt aus Wichmar, wann sie auswanderten ist mir bisher unbekannt. Es ergibt sich daher ein Zeitfenster, durch das ich die Verhältnisse im Herkunfts- und im Zielland betrachten will. Meine Vorfahren hatten für ihre Auswanderung vermutlich ähnliche Motive wie die meisten Auswanderer. Bestimmend war die heute kaum noch vorstellbare materielle Not und die Hoffnung auf ein neues und besseres Leben. Für das Leben der Menschen waren und sind Kriege ein bestimmendes Ereignis. Die Bevölkerung litt unter Requirierungen, erhöhten Steuern und der Verpflichtung zum Kriegsdienst. Der Soldatenhandel hatte - besonders in Hessen-Kassel - eine lange Tradition und war bis ins 18. Jahrhundert allgemein akzeptierte Praxis. Dadurch fehlten den Familien für die Versorgung notwendige Arbeitskräfte. Freiwillig war die Teilnahme am Krieg selten. Mit seiner zentralen Lage waren die Länder des heutigen Deutschland häufig ein Durchzugsgebiet für Truppenbewegungen: im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, im Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721, im Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763 und in den Napoleonischen Kriegen von 1804-1815. Die Kriege waren in jeder Beziehung eine besondere Belastung, da ihnen oftmals Hunger und Krankheiten folgten. So trugen und tragen sie mit zur Verarmung großer Bevölkerungsteile bei. Klimaschwankungen und die dadurch bedingte Verminderung der Ernten hatten einen zusätzlichen Effekt bei der Verelendung breiter Bevölkerungsgruppen. Ein Vulkanausbruch ( iii ) im April 1815 in Indonesien hatte Auswirkungen auch auf das Klima in Europa: Das Jahr 1816 war (wie auch die Folgejahre) besonders kalt und wurde als das 'Jahr ohne Sommer' bezeichnet. Konkret ersichtlich wird die Not an der hohen Kindersterblichkeit, die im 19. Jahrhundert allgemein mit durchschnittlich 50 Prozent angegeben wird. In dem von mir bisher aufgenommenen Datenbestand – der natürlich nicht repräsentativ ist – liegt der Anteil, der bis zum 10. Lebensjahr verstorbenen Kinder bei fast 60 Prozent! Auch die Tatsache, dass es in den Familien trotzdem viele Kinder gab, ist ein klarer Hinweis auf die Verhältnisse. In unserer heutigen Gesellschaft in relativer Sicherheit und ohne Mangel, liegt die Anzahl der Kinder pro Familie bei etwa 1,3. Im 19. Jahrhundert lag diese Zahl zwischen 6 und 9 ( iv ) . Kinder bedeuteten für die Eltern eine Entlastung bei der täglichen Arbeit und Sicherheit und Versorgung im Alter. Wenn ein Kind starb, musste dieser Tod und Verlust von der Familie und auch der ganzen Gesellschaft verarbeitet werden. Bekommt doch gerade das kleine Kind alle Aufmerksamkeit und Zuwendung von den Eltern, Geschwistern und Verwandten. Das führt zu einer besonders engen Verbindung zu dem Kind und im Falle des Todes zu besonders tiefer Trauer. Ein Zweig meiner Vorfahren (die Familie Kircher) stammt aus dem kleinen Ort Utphe, heute ein Stadtteil von Hungen im mittelhessischen Landkreis Gießen. Als ich Anfang der 2000er Jahre anfing mich für die Herkunft meiner Familie zu interessieren, habe ich mir den Ort Utphe angesehen. Dominiert wird er durch ein im 18. Jahrhundert von den Solms-Laubacher Grafen erbautes Hofgut. Im Ortskern fanden wir ganze Häuserzeilen mit winzig kleinen eng aneinander gebauten Häuschen vor. Mit etwas Fantasie war die Enge auch nach 200 Jahren noch zu spüren. Auch im 19. Jahrhundert wurde in Hessen, Baden und Württemberg nach dem Prinzip der Realteilung vererbt. Das bedeutete, dass z. B. das gesamte Erbe eines Bauern - also auch die landwirtschaftlich genutzten Flächen - auf alle seine Kinder verteilt wurde: Die immer kleiner werdenden Höfe konnten ihre Bewirtschafter kaum noch ernähren. ( v ) Ein weiterer Grund für Auswanderung: Die erforderliche Genehmigung für eine Heirat, die von der Verwaltung nur erteilt wurde, wenn ausreichende Geldmittel vorhanden waren. Es erfolgte so eine "Drosselung der Vermehrung der Armen durch Heiratsverbot". ( vi ) Die Auswanderung wurde den Untertanen z. B. in den Hessischen Landen nicht leicht gemacht. Die Obrigkeit sah die Bevölkerung als ein dem Landesherrn gehörendes Kapital an. Auswanderung minderte dieses Kapital und war daher zu verhindern ( vii ). Für das Kurfürstentum Hessen-Kassel wurde sie erst im Jahre 1831 durch eine neue Verfassung legal ( viii ) . In Württemberg wurde das Auswanderungsverbot ebenfalls erst durch die neue Verfassung von 1815 zunächst entschärft und dann 1817 aufgehoben. ( ix ) Die Bedingungen für den Erhalt einer Bescheinigung zur "Entlassung aus dem Untertanenverband" waren so angelegt, dass man die Armen gerne ziehen ließ bzw. deren Auswanderung sogar förderte - d. h. die Verwaltung zahlte die Kosten. Die Vermögenderen mussten sich die notwendige Bescheinigung teuer erkaufen. Die Steuerung der Auswanderung war für den Landesherren und seine Verwaltung ein Instrument der Bevölkerungsentwicklung und Arbeitsmarktpolitik. Entsprechend wurden Bedingungen zur Kontrolle der Auswanderung geschaffen: Werber für die Auswanderung wurden mit "harter Leibesstrafe" bedroht, d. h. Haft unter verschärften Bedingungen; Zensur der Privatpost, d. h. Überwachung der Briefe von Ausgewanderten an die Zurückgebliebenen; eine gut funktionierende Überwachung der Bevölkerung durch die Polizei. ( x ) Ab ca. 1824 gab es aus Hessen eine Auswanderungswelle nach Brasilien, die der Werber Dr. Kretschmar aus Frankfurt förderte ( xi ) . Diese Bewegung wurde aber in dem Maße immer geringer, in dem die Werber durch die Verwaltung verfolgt wurden und in dem Nachrichten nach Hessen zurückkamen, die nichts Gutes berichteten. "Es ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob Kretschmar von der Tatsache wusste, dass mindestens ein Teil der Auswanderer drüben mit mehr oder weniger sanftem Zwang in des Kaisers bunten Rock gesteckt wurde", lesen wir in Hans Richters Beitrag aus dem Jahre 1934 ( xii ) , d. h. sie wurden gezwungen als Soldaten im Krieg für Brasilien zu kämpfen (Argentinisch-Brasilianischer Krieg ( xiii ) ). Auswanderung - aber wohin: Nach Osten oder nach Westen? Für die Auswanderungswilligen war diese Entscheidung sicherlich sehr schwer zu treffen, denn sie bestimmte das gesamte weitere Leben. Die Ausreisewellen wechselten in Abhängigkeit von Faktoren wie rechtlicher Situation, Informationsstand, Stimmungen in Land und Wohnort: Für eine gewisse Zeit ging es nach Westen - das bedeutete Nord- oder Südamerika - die nächste Welle führte die Auswanderer dann nach Osten - das hieß meist Russland, Polen oder Ungarn. Das Spannungsfeld, in dem sich die Auswanderer befanden, wurde bestimmt durch die folgende Abwägung:
Für Güter in der Nähe von Lodz wurden ab 1835 Siedler für bestimmte Dörfer gesucht. Die Werbung sprach gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen an, für welche die Auswanderung nach Amerika wegen der hohen Überfahrtkosten und der klimatischen Probleme nicht in Frage kam: relativ alte Eltern mit vielen Kindern und wenig Vermögen. ( xv ) In einem engen Zeitfenster entschieden sich viele Familien nach Polen auszuwandern. Aber genauso ging es auch in die andere Richtung, nach Westen, nach Amerika. Es finden sich Hinweise ( xvi ) , dass aus den Ursprungs-Familien der polnischen Kolonisten Geschwister oder nahe Verwandte frühere oder spätere Auswanderungen auch nach Amerika erfolgten. Die zuvor aufgeführten Argumente für eine Auswanderung bezogen sich auf die Situation am Herkunftsort, also auf Hessen, Baden und Württemberg. Eine ebenso große Bedeutung für die Entscheidung zur Auswanderung hatten die Verhältnisse im Zielland - also in Polen. Im 18. Jahrhundert wurde Polen drei Mal geteilt. Durch die 3. Polnischen Teilung im Jahr 1795 wurde das zuvor schon sehr verkleinerte Land nun vollständig unter den umgebenden Großmächten (Russland, Österreich, Preußen) aufgeteilt, die Region um Lodz wurde Teil der Provinz Südpreußen.
Auf der preußischen Karte von Polen aus dem Jahr 1793 s. u. ( xvii ) ist an der Stelle, an der sich heute die Großstadt Lodz befindet, kein Ort zu finden. Im selben Jahr "wurde auf Grund einer preußischen Erhebung festgestellt, dass in der Stadt [Lodz] 201 Personen lebten. Weiterhin gab es je 44 Häuser und Scheunen sowie zwei Schenken." ( xviii )
Ausschnitt aus der preußischen Karte von Polen aus dem Jahr 1793 ( xix ) , Orte der Region des hier noch nicht verzeichneten Ortes Lodz wurden farblich markiert Nach umfangreichen Bestandsaufnahmen in der unterentwickelten Region, wurde von Seiten der Preußischen Regierung beschlossen, auf den staatlichen Ländereien zur Waldrodung und Trockenlegung von Feuchtgebieten neue Siedlungen zu gründen. Die Kolonisten wurden mit attraktiven Konditionen überwiegend aus dem heutigen Südwestdeutschland (Baden und Württemberg) angeworben, sie bekamen vom Preußischen Staat: Reise- und Zehrgelder, 3 - 6 Jahre Steuerbefreiung und die Befreiung vom Militärdienst; auf dem zugewiesenen Land wurden auf staatliche Kosten Brunnen und Gebäude errichtet, außerdem wurden die Siedler mit Saatgetreide und Vieh ausgestattet. ( xx ) Die Bedingungen galten aber nur für wenige Jahre. Vor allem aber erfolgte bald darauf eine Kategorisierung nach dem mitgebrachten Vermögen. Das bedeutete die mittellosen Kolonisten der untersten Kategorie erhielten nur eine sogenannte Häuslerstelle mit einer Größe von etwa 3 Morgen Land, dem gegenüber konnten die Siedler der höchsten Kategorie mit einer Größe von bis zu 120 Morgen Land rechnen ( xxi ) . Viele kehrten enttäuscht in die Heimat zurück. Den Auswanderungswillen aus den deutschen Landen konnte dies nicht wesentlich dämpfen. Mit Beginn der Übergangsphase des "Herzogtums Warschau" von 1807 bis 1815 endete die Preußische Verwaltung. Die neue Polnische Regierung unterstützte abwanderungswillige deutsche Siedler, um sie möglichst im Lande zu halten. Nach dem "Wiener Kongress" im Jahre 1815, kam die Einwanderung völlig zum Erliegen, denn die wieder neue Regierung erließ verschiedene Verordnungen, die zuvor gewährten Privilegien der Siedler wurden gestrichen. Neue Auswanderer nach Polen brauchten nun eine Einreiseerlaubnis des russischen Gesandten, für die eine Bescheinigung über das mitgeführte Vermögen notwendig war ( xxii ) - nicht jeder wurde aufgenommen.
Erst nach dem polnischen Aufstand von 1830 / 1831 wurde mit wieder gelockerten Verordnungen und teilweiser Wiedereinführung der Privilegien für Neu-Siedler, wieder ein Anstieg der Anzahl der Zuwanderer erreicht ( xxiv ) . "Diese für deutsche Ansiedler günstige Periode findet allerdings wieder ihr Ende in den letzten Regierungsjahren des Zaren Alexander II. (1855-1881) als in Russisch-Polen wieder eine verstärkte Russifizierung einsetzte" schreibt der Publizist und Heimatforscher Otto Heike in seiner Veröffentlichung aus dem Jahre 1979. ( xxv ) Auch einzelne Großgrundbesitzer warben zur Entwicklung ihrer Ländereien Siedler und Kolonisten an. So wie Mikolaj Krzywiec-Okołowicz, ein aus Litauen stammender Großgrundbesitzer, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Nähe von Lodz u. a. die Orte Zabice Wielkie (das später in Konstantynow umbenannt wurde) und Bechcice kaufte ( xxvi ) . Er siedelte dort Tuchmacher und Handwerker an. Im Jahr 1821 unterzeichnete er mit drei Siedlern aus Ozorkow einen Vertrag, der sie verpflichtete, 150 Weberfamilien zur Ansiedelung anzuwerben. ( xxvii ) Etwas später wurde "das Dorf Bechcice, das im Jahre 1835 von sechs Kolonisten aus Hessen-Darmstadt - stammend aus den Dörfern Komrod, Keltingen, Niedergosse, Elbenrod und Elbertsheim [Die hier von Breyer angegebenen Orte sind teilweise nicht korrekt. Es dürfte sich um die Orte Romrod, Niederjossa und Elbenrod handeln. Die Orte Keltingen und Elbersheim konnten nicht identifiziert werden.] ( xxviii ) vom Gutsbesitzer Quirin Okołowicz aus Bechcice für 333 Rheinische Gulden die Hufe, im ganzen 60 Rheinische Hufen, gekauft. Das Siedlungsland bestand aus: Wald, Ackerboden, Wiesen, Sümpfen, Weideland und verstrauchtem Boden. Es gab nur 2 Freijahre. Zum Bau einer Schule verpflichtete sich der Grundherr 20.000 Ziegel zu liefern. Handgeld gaben die Kolonisten 2.430 Rheinische Gulden, in einer Frankfurter Bank zahlten sie 6.222 Rheinische Gulden ein, den Rest von 13.000 Rheinischen Gulden zahlten sie nach Übernahme der Länder." schreibt der Heimatkundler Albert Breyer im Jahre 1935. Der hier zitierte Text von A. Breyer ist in die Zeit seiner Entstehung einzuordnen. Deutlich erkennbar vertritt der Autor eine völkische Auffassung, das deutsche Bauerntum wird idealisiert und heroisiert. Trotzdem können interessante Fakten entnommen werden. ( xxix ) "Die Siedler für den einen Ort (Babice) kamen aus der Gegend von Hersfeld, aus der Schwalm und aus der Umgebung von Alsfeld, die für einen anderen (Lobudzice) aus der Wetterau zwischen Gießen und Büdingen, die für ein drittes Dorf (Bechcice) aus der Nähe von Alsfeld." schreibt Inge Auerbach, Professorin für Osteuropäischer Geschichte, in ihrem Buch aus dem Jahre 2003. ( xxx ) Es wird geschätzt, dass zwischen 1834 und 1838 aus dem gesamten Raum des heutigen Hessen etwa 500 Familien ausgewandert und sich in der Region Lodz niedergelassen haben. ( xxxi ) In der neuen Heimat angekommen, ließen sich die Siedler meist nach ihrem Herkunftszusammenhang nieder. So entstanden z. B. "Hessische Dörfer" in der Umgebung von Lodz, ebenso wie es bereits "Schwäbische Dörfer" aus vorangegangenen Einwanderungswellen in der Region gab. An den Ortsnamen lässt sich mitunter ablesen, wie die Kolonisierung ihren Verlauf nahm: In der Anfangszeit ging es den Kolonisten vorrangig um die Rodung der Wälder, es galt möglichst schnell nutzbaren Ackerboden zu gewinnen. Der Bau von Wohnhäusern und Wirtschaftsgebäuden wurde verschoben, die Siedler lebten in einfachen Unterkünften aus Grassoden. Diese Hütten wurden auch als Buden - polnisch "Budy" - bezeichnet. Daraus entwickelte sich der Name der Ortschaft wie z. B. Budy Jogodnickie oder Budy Dabrowna. In der Quartiermeisterkarte von 1822-1843 (s. o.) können diese Namen abgelesen werden. ( xxxii ) Weitere Ortsnamen fallen mit Bezeichnungen auf: "Die ersten Liniendörfer traten zur südpreußischen Zeit auf, sie tragen die kennzeichnende Benennung "Kolonie" im Gegensatz zu den in altpolnischer Zeit entstandenen deutschen Siedlungen, die "Holland" benannt wurden." ( xxxiii ) so A. Breyer, s. o.. Beispiele aus der Quartiermeisterkarte von 1822-1843 (s. o.) sind die "Kolonie Maiowka", "Kolonie Piaski", "Holland Rodogoszczskie" oder "Holland Grzvnikowski". Die ersten Siedler, die schon seit dem 15. Jahrhundert von Danzig aus die untere Weichselniederung urbar machten, waren wirkliche Holländer, aber im Laufe der Zeit löste sich der Name von der tatsächlichen Herkunft und bezeichnete alle deutschen Siedler und den gemeinsamen Siedlungstyp. ( xxxiv ) Abgesehen von den nicht immer erfüllten Versprechungen der Grundherren und ihrer Werber, waren die Kolonisten oft durch die vorhandenen Bedingungen überfordert. Viele Siedler hatten keine konkreten Erfahrungen im Roden von Wäldern oder im Trockenlegen von sumpfigem Gelände, die Bedeutung der schweren Rodearbeiten im "Urwald" ( xxxv ) der Lodzer Region war vielen nicht klar. Ein häufig wiedergegebener Spruch von Auswgewanderten lautet: "Den Siedler erwartet ein früher Tod, die Kinder haben die Not und erst die Enkel haben das Brot". Die universelle Gültigkeit läßt sich daran ablesen, dass der Spruch von Kolonisten aus Amerika, dem Banat, aus Polen sowie von Moorbauern in Norddeutschland bekannt ist. Viele Siedler sahen sich enttäuscht von der Qualität der bewirtschafteten landwirtschaftlichen Flächen: Der gerodete Waldboden war häufig sandig und erbrachte wesentlich geringere Erträge als nahegelegene (z.B. in den Kreisen Kalisch und Konin) besser ausgestattete Böden. ( xxxvi ) In seinen unter dem 12. Februar 1828 der Regierung zugesandten Bericht schreibt der Gemeindevogt von Laznow, Kurowski: "Der Boden von Augustow ist wenig ertragreich und muß bei der Klassifizierung in die Kategorie des ertragsarmen Landes eingereiht werden." so zitiert Alexander Hoefig in einem Zeitungsartikel des Jahres 1935 aus dem Bericht eines Dorfschulzen an seine Regierung ( xxxvii ) Vielfach mussten die Ausgewanderten auch feststellen, dass ihnen zu viel versprochen worden war. Ein Teil entschied sich für eine Rückkehr in die hessische Heimat. Zunächst verweigerten jedoch die Gemeinden die Wiederaufnahme der neuen Ortsarmen wegen der befürchteten finanziellen Belastung. Die Regierung entschied, eine Entlassung aus dem Untertanenverband sei nur dann rechtskräftig, wenn anderswo die Aufnahme wirklich erfolgt sei. ( xxxviii ) schreibt Inge Auerbach, s. o., in ihrem Buch aus dem Jahre 2003. Die Auswanderung nach Osten wurde zunehmend unattraktiv.
Anmerkungen
i Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000. S. 11, in: Fies, Alexandra. Die badische Auswanderung im 19. Jahrhundert nach Nordamerika unter besonderer Berücksichtigung des Amtsbezirks Karlsruhe zwischen 1880 - 1914. KIT Scientific Publishing, 2010, https://books.openedition.org/ksp/2017
ii Fies, Alexandra. Die badische Auswanderung im 19. Jahrhundert nach Nordamerika unter besonderer Berücksichtigung des Amtsbezirks Karlsruhe zwischen 1880 - 1914. KIT Scientific Publishing, 2010, https://books.openedition.org/ksp/2017
iii https://de.wikipedia.org/wiki/Jahr_ohne_Sommer
iv https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/aufsaetze/roedel-entwicklung-demographie-deutschland.html
v https://de.wikipedia.org/wiki/Realteilung
vi Inge Auerbach: Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, 10, Auswanderung aus Kurhessen, nach Osten oder nach Westen?, Marburg 1993, Seite 26
vii Inge Auerbach: Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, 10, Auswanderung aus Kurhessen, nach Osten oder nach Westen?, Marburg 1993, Seite 136
viii https://www.jura.uni-wuerzburg.de/lehrstuehle/muenkler/verfassungsdokumente-von-der-magna-carta-bis-ins-20-jahrhundert/verfassung-des-kurfuerstentums-hessen-5-jan-1831/ Verfassung des Kurfürstentums Hessen, 5. Jan. 1831, § 41: "Jedem Einwohner steht das Recht der freien Auswanderung unter Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen zu."
ix https://gkv.geschichtsverein-koengen.de/altehomepage/Gesch1806-1850.htm
x Inge Auerbach: Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, 10, Auswanderung aus Kurhessen, nach Osten oder nach Westen?, Marburg 1993, Seite 35
xi Richter, Hans: Hessen und die Auswanderung 1815-1855. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins N.F. 32 (1934), S. 58
xii Richter, Hans: Hessen und die Auswanderung 1815-1855. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins N.F. 32 (1934), S. 61
xiii https://de.wikipedia.org/wiki/Argentinisch-Brasilianischer_Krieg
xiv Großherzoglich Hessisches - Regierungsblatt - für das Jahr 1837, Nr. 33., Darmstadt am 8. Juli 1837, https://starweb.hessen.de/cache/hessen/regierungsblatt/hessisches_regierungsblatt_1837.pdf
xv Inge Auerbach in: Der hessische Löwe und der russische Bär. Die Beziehungen zwischen Hessen-Kassel und Russland 16. – 20. Jahrhundert. ISBN 3894453265, Seite 106
xvi z. B. "Kircher, Philipp, Utphe, 1825", in: Hessische Auswanderer |
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