Erika Reit erzählt
Erika Reit hat ihren Kindern viele Geschichten von früher erzählt: Geschichten über ihre Eltern, Großeltern und Verwandte. Wir als Kinder wollten immer sehr gerne noch mehr hören. Wir haben an ihren Lippen gehangen und haben jedes Wort aufgesaugt. Diese Geschichten, die über die Menschen von damals etwas aussagen, sollen nicht verloren gehen, auch wenn es teilweise nur kleine Schnipsel mit scheinbar geringem Aussagewert sind.
[Erika Reit erzählt]
Es war der Tag der Taufe von Elisabeth Gerbig. Heinrich Reit war ein junger Mann und fuhr sie mit dem Pferdewagen zur Kirche.
Er sagte: "Ich fahre meine Braut zur Taufe!"
[Erika Reit erzählt]
In Lodz am "Großen Ring" wohnte eine Oma[?] von Erika. Die Wohnung hatte eine Einrichtung ganz in weiß: weiße Möbel, Gardinen und Decken. Auch die Boden-Dielen waren weiß gescheuert. "Das war eine feine Frau", ihr Sohn war der "Schokoladenonkel" [er hieß möglicherweise Gustav]. Diese Oma[?] war etwa so alt wie Wilhelmine Schittenhelm. Der Mann dieser Oma[?] war schon lange tot, Erika "hat ihn nie kennengelernt". Erika war nicht oft bei dieser Oma[?], das war in der Zeit als Erika etwa 12 oder 13 Jahre alt war.
[Erika Reit erzählt]
Als Erika noch ein kleines Mädchen war, kam gelegentlich aus Pabianice eine Verwandtschaft [Reit?] zu Besuch. Es waren feine, elegant gekleidete Leute, die Frau war geschminkt - in der damaligen Zeit unüblich.
[Erika Reit erzählt]
Zwei von den Brüdern von Heinrich Reit sind mit ihren Frauen nach Russland ausgewandert, einer von beiden hieß Johann Reit.
[Erika Reit erzählt]
Ihre Oma, Magdalena Kircher, hatte zusammen mit ihrem Mann Wilhelm Gerbig eine Weberei in ihrem Haus in der Hauptstraße in Konstantynow. Wenn Erika sie besuchte fuhr sie von Lodz mit der Straßenbahn bis zur letzten Station in Konstantynow.
[Erika Reit erzählt]
Mein Vater stammte von einem großen Bauernhof. Wegen der vielen Erlen-Bäumen, die man auch Ellern nannte, hieß dieser Hof auch "die Elle". Es gab dort viele Fischteiche. Der Hof wurde von einem Bruder meines Vaters bewirtschaftet. Ich erinnere mich, dass es dort einen großen, besonderen Baum gab, das war der "Kruschkenbaum".
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https://www.zobodat.at/search.php?q=Kruschkenbaum
O. Knoop (1902): Volkstümliches aus der Pflanzenwelt – Zeitschrift der Botanischen Abteilung Naturwissenschaftlicher Verein der Provinz Posen – 9: 11 - 18.
A. Treichel (1886): Volksthümliches aus der Pflanzenwelt, besonders für Westpreussen. VI. – Schriften der Naturforschenden Gesellschaft Danzig – NF_6_3: 139 - 181.
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[Erika Reit erzählt]
Heinrich Reit war von Beruf Reliveur oder Graveur und spezialisiert auf die Herstellung von Druckwalzen zum Bedrucken von Stoffen. Er arbeitete in der Firma "Camille-Ast" die in der Senatorska Straße Nr.7 in Lodz ansässig war. Zur Herstellung dieser Druckwalzen gab es ein französisches Verfahren, von dort mussten die Walzen importiert werden. Heinrich Reit erfand eine Möglichkeit die Walzen selbst herzustellen, so dass der Import nicht mehr notwendig war. Ein Patent konnte er auf das Verfahren jedoch nicht anmelden, denn dieses gab es bereits in Frankreich.
[Erika Reit erzählt]
Manchmal erlebte sie es, dass Polen "hinter ihrem Rücken" Bemerkungen über sie machten. So wurde z. B. gesagt: "Seht, da geht die Schwabka mit dem großen Gesangbuch."
Mit Schwabka war eine Deutsche Frau gemeint, das große Gesangbuch hatten die evangelischen Deutschen im Gegensatz zu den katholischen Polen.
Erika empfand solche Sprüche als abfällig und fühlte sich herabgesetzt.
[Erika Reit erzählt]
Bis lange Zeit nach dem Ende des Krieges sprach Erika Reit ohne kritisches Bewustsein von "polnischen Verhältnissen", wenn sie z. B. einen (nach ihren Maßstäben) unordentlichen oder nicht aufgeräumten Garten sah.
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